Nach kubistischer, abstrakter und informeller Malerei und
Skulptur gilt es nunmehr, die menschliche Gestalt so zu formen,
daß sich in ihr der Mensch nicht nur erkennt, sondern sich so
wahrnimmt, daß er sich leiblich und geistig bestätigt fühlt.
Sosehr die Arbeitswelt mechanisiert ist, so sehr ist der Mensch
bemüht, seinen Leib zu pflegen und zu stählen. Auf diese Weise
wird für den Bildhauer die Voraussetzung dafür geschaffen, die
menschliche Gestalt nicht nur als Erscheinung zu verstehen,
sondern darüber hinaus den Menschen als geistiges Wesen
darzustellen. Gestalt soll Form werden, sie soll über sich
hinauswachsen und einen geistigen Raum schaffen. Erscheinung und
Inbild sollen zusammenfallen. Sie soll nicht Abbild, sondern Bild
sein.
Damit ist Hortensias Weg gekennzeichnet.
Sie zeichnet und modelliert, wie sie die menschliche Gestalt
sieht: sie sieht sie nicht "anatomisch", sondern als
Bauwerk, in dem sich Statik und Dynamik, Satz und Gegensatz
vereinen. Kopf, Rumpf, Arme und Beine sollen nicht nur
"richtig" sein, sie sollen darüber hinaus so
"komponiert" sein, daß sie eine in sich stimmende
Figur ergeben. Statik ist Ausdruck der Ruhe, aber auch einer
Spannung, die Bewegung nach sich zieht, die rhythmisch geordnet
wird. Eine Figur stimmt nur dann, wenn sie so geordnet ist, daß
Statik und Bewegung durchgehend rhythmisiert sind.
Ordnung spricht den Geist an, weil sie geistigen Ursprungs ist.
Ein Beispiel: die kleine Skulptur einer Afrikanerin. Das Modell
stand in der "Grundstellung". Weil diese nicht
"interessant" ist, ist es besonders schwer, sie
plastisch so zu formen, daß sie interessant wirkt. Das Auge
nimmt die Gestalt wahr, und deshalb ist diese wichtig. Die
Bildhauerin - die nicht nur Auge ist - formt diesen Leib so, daß
er klar gegliedert und ausdrucksvoll erscheint. So hat er vom
Kopf bis zu den Fersen charakteristische, rhythmisch geordnete
und spannungsvolle Rundungen, die einmal Beine, dann Becken und
Rücken sind und die im Kopf, der fast eine Kugel ist,
kulminieren. Klares Stehen, kräftig ausgeformte Wölbungen -
Berge und Täler - machen die Leiblichkeit der Figur aus. Statik,
Rhythmik und Proportion verleihen ihr einen geistigen Gehalt.
Leiblichkeit und Geistigkeit fallen zusammen, steigern sich
gegenseitig, vereinen sich zu einem plastischen Werk.
Hortensia vertritt eine sogenannte gegenständliche Kunst. Diese
Bezeichnung gibt dem Gegenstand eine Bedeutung in der bildenden
Kunst, die er nie hatte und auch gegenwärtig nicht hat, sofern
ein Bild, ein Bildwerk, in sich stimmen, Form sein soll, Einheit.
Einheit ist eine geistige Forderung, also keine auf die Materie,
auf den "Gegenstand" bezogene Forderung. Im furchtbaren
Weltgeschehen kann nur eine Kunst sinnvoll sein, in der bildhafte
Ordnung an oberster Stelle steht. Francis Bacon sagte
"Große Kunst kommt immer aus einer tiefen inneren Ordnung.
Selbst wenn es innerhalb dieser Ordnung instinktive und
zufällige Dinge gibt, denke ich dennoch, daß auch sie dem
Wunsch nach tiefer Ordnung und einer heftigen Einwirkung auf das
Nervensystem entspringen". Was im internationalen
Kunstbetrieb als "moderne Kunst" bezeichnet wird,
bleibt diese Ordnung schuldig, und so ist ihr derzeitiger
Niedergang eine logische Folge: Wo die außerkünstlerischen
Mächte, seien sie in Kriegen konzentriert oder in den
Bruchstellen der Wissenschaften, in höchstem Maße gefährlich
werden, ist eine Kunst notwendig, die geistige Integrität als
ihr höchstes Ziel - sie ist ja nicht selbstverständlich -
erkennt. Und diese Integrität ist nur gegeben, wenn ein geistig
- nicht aber "gegenständlich" - dominiertes Werk die
zerfallende "gegenständliche" Welt als bildhafte
Einheit darzustellen versucht. Wenn ich sage
"versucht", so bedeutet das, daß Einheit keine
Selbstverständlichkeit ist, kein immer sich einzustellendes
Resultat einer künstlerischen Arbeit, sondern eine Ausnahme, ein
fernes Ziel, ja eine Idee, die nicht vollkommen realisiert werden
kann. Nur jener Künstler, der diese Ausnahme im Auge hat, dem
sie bindende Idee ist, kann seiner Gegenwart gerecht werden.
Nicht die vielzitierte Zeit - ein unbestimmbarer Begriff -, nur
anschauliche Einheit, Einheit der Bildform, kann fruchtbare
Richtlinie für den Schaffenden sein. Es ändert sich nicht die
"Zeit", es ändert sich die Weltschau und das
Weltverständnis des Menschen, und dieser Änderung kann sich
niemand entziehen: Gegenwart ist immer, meinte George Braque. Der
Schaffende soll endlich aus der geistigen Unverbindlichkeit einer
an sich autonomen Kunst ausbrechen. Kunst ist nicht Dekor, nicht
Paravent, sie ist Zeugnis, und der Künstler ist der Gegenwart
verpflichtet, sei es positiv oder negativ.
Kunst ist das einzig mögliche Gegengewicht zu den
zerstörerischen Kräften im Menschen.
HEIMO KUCHLING, Februar 1996, aus dem Ausstellungskatalog
"ÖBV"