Die Macht der Kunst
Otto Hans Ressler, Wien, im Februar 2002

 

„Wenn es etwas giibt, wofür zu leben sich lohnt, dann ist es die Betrachtung des Schönen", sagte vor mehr als 2300 Jahren Platon. Dennoch stand er der „schönen" Kunst sehr skeptisch gegenüber. Denn alles, was sie könne, wäre nur, Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit zu erzielen.

Wahrheit habe aber mit Ähnlichkeit nichts zu tun.

Platon hat anerkannt, dass Kunst schön ist - worunter er Maß, Proportion und Harmonie verstand - und dass Schönheit etwas sei, das den Menschen nach der ewigen Wahrheit der Ideen streben lasse. Um aber zur Wahrheit zu gelangen, meinte er, müsse man alle Erscheinung hinter sich lassen und dürfe nicht die Erscheinung durch eine Art Spiegelung noch verdoppeln.

Sein Schüler Aristoteles hat der Vorstellung, die wirkliche Welt und jene der Ideen wären getrennt, widersprochen. Für ihn existierten die Ideen in der Wirklichkeit. Der Kunst sprach er die Aufgabe zu, nicht einfach darzustellen, was ist, sondern vielmehr, was sein könnte.

Die gegensätzlichen Auffassungen der beiden großen Philosophen der Antike ziehen sich noch heute durch die Debatte, was Kunst sei, was sie zu sein habe. Die Fülle der tausend- und abertausendfach geäußerten Meinungen hat aber mehr zu Verwirrung als zu Klärung geführt. Denn noch immer geht es um Schönheit, um Wahrheit, um Sinn.

Hortensia ist als Zeichnerin und Bildhauerin diesen Werten verpflichtet. Es geht ihr um die sinnliche Erfahrung von Wirklichkeit, unter der Einschränkung, dass nur der Einsatz eindeutiger bildnerischer Mittel die Voraussetzung schaffe, das sinnliche Erlebnis künstlerisch umzusetzen. Die Künstlerin versucht, das ihr wesentlich Erscheinende aus der Fülle der Eindrücke herauszulösen. Es ist ein Prozess des Weglassens, der Reduzierung, eine Auswahl, die ausscheidet, was die unsichtbare Ordnung schwächen würde, und aufgreift, was geordnet werden kann - denn nur dieser schmale Grat ist ihr wesentlich, wo bildhafte Ordnung und bildnerischer Geist zusammentreffen.

In diesem Sinne ist Zeichnen, von vielen Menschen lediglich als Vorstufe für die Malerei oder als Fingerübung am Motiv missverstanden, für Hortensia nicht nur der unmittelbarste, geradezu intimste Ausdruck ihrer künstlerischen Arbeit, sondern darüber hinaus der Versuch, aus den konstruktiven Elementen einer Landschaft, eines Kopfes, einer Gestalt deren Struktur zu erkennen und darstellerisch abzutasten. Es ist ihre grundsätzliche Art und Weise, die Welt zu betrachten, um sie zu begründen.

Denn das ist Zeichnen vor allem: Zeichen zu setzen. Zeichen, deren Bedeutung über die Zeit hinweg verstanden werden kann. Wir, die wir diese Zeichen-Zeichnungen betrachten, mögen die Gedanken, Wünsche und Absichten vielleicht nicht zu teilen, die ihr Ursprung sind, aber die Emotionen, die mit ihnen untrennbar verbunden sind, vermögen wir aufzunehmen, und sie bleiben bestehen.

 

„Wir lesen und schreiben Gedichte nicht zum Spaß", erklärt im Film Der Klub der toten Dichter ein Lehrer seinen Schülern. „Wir lesen und schreiben Gedichte, weil wir zur Spezies Mensch zählen. Und die Spezies Mensch ist von Leidenschaft erfüllt. Medizin, Jura, Technik sind notwendig. Aber Poesie, Schönheit, Romantik, Liebe sind die Freuden unseres Lebens." Und er zitiert Whitman: „Die immer wiederkehrenden Fragen: Wozu bin ich da? Wozu nützt dieses Leben?" Und er gibt die Antwort: „Damit du hier bist. Damit das Leben nicht zu Ende geht, deine Individualität. Damit das Spiel des Lebens weiter besteht und du deinen Vers dazu beitragen kannst."

Ich meine, dass dieser Hinweis von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn er ständig in Vergessenheit gerät: Die Kunst ist nicht für die Künstler gemacht, sie ist für uns gemacht. Sie misst sich an dem, was sie für uns - in uns - bewirkt. Dramatisch ausgedrückt - wie Friedrich Nietzsche - heißt das: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen".

Deshalb hat Kunst nichts mit Können zu tun, die handwerkliche Perfektion ist nur eine sehr wesentliche Voraussetzung, um überhaupt vermitteln zu können, was vermittelt werden soll. Kunst hat auch nichts mit Wollen zu tun (und nicht einmal deshalb nicht, weil sie dann nicht Kunst, sondern Wulst hieße, wie es August Everding einmal launig ausgedrückt hat), weil unser Bewusstsein nicht tief genug hinabreicht in uns, um die Urgründe unserer Existenz zu berühren. Denn aus diesen Urgründen stammt sie letztlich her.

Und deshalb genügt es auch nicht, die Technik eines Kunstwerks zu beschreiben, um dem, was es bedeutet und jedem von uns zu sagen vermöchte, näher zu kommen. Es ist etwas Geistiges. Es spielt sich in unserem Kopf ab. Kunst vermag etwas auszulösen in uns, das auf andere Weise nicht geweckt zu werden vermag. Es ist ein Geheimnis - mit der Linienführung auf einem Blatt Papier, der Entstehung einer plastischen Form, ja auch mit der Form selbst, hat es jedenfalls nichts zu tun. Wie es geschieht, ist selbst dem Künstler als Gefäß dieser Vorgänge nicht zugänglich.

Näherte man sich dem Werk Hortensias nur mit der Absicht, das Sichtbare, das Technische zu beschreiben, käme man zur Ansicht, es in ihrem zeichnerischen wie bildhauerischen Werk mit einer Traditionalistin zu tun zu haben.

Es wäre dies aber der falsche Zugang: Die Entscheidung, nicht gegenstandslos oder geometrisch zu arbeiten, sondern ganz bewusst den menschlichen Körper ins Zentrum ihrer künstlerischen Auseinandersetzung zu stellen (was im Übrigen auch bedeutete, sich aus der Schlacht um den Kunstmarkt auszuklinken, wo eine selbsternannte Avantgarde die Positionen fest besetzt hält), entsteht bei Hortensia aus dem Bemühen, konstruktive Elemente herauszulösen und festzulegen.

Dieser Weg ist risikoreicher, als es den Anschein hat - einmal abgesehen davon, dass es Mut erfordert, gegen den Strom zu schwimmen. Freilich vermute ich, dass Hortensia gar keine Alternative hatte: Alles andere wäre einer Attacke gegen ihr Wesen gleichgekommen, billig, aber teuer erkauft.

Die Welt, mit der sie sich beschäftigt, kennt Maß und Form, Ruhe und Bewegung, Körperlichkeit und Räumlichkeit, aber nicht Effekthascherei, nicht Koketterie, nicht Penetranz. Die menschlichen Figuren, die den Inhalt ihrer künstlerischen Welt ausmachen, sind nicht ohne Widersprüche - die Harmonie, die sie auf den ersten Blick auszudrücken scheinen, täuscht. Wer näher tritt, spürt Vertrautes wie Fremdes. Er spürt, dass die Künstlerin Kubismus, Dadaismus, das Magische an der Kunst von Stammestraditionen ganz genau kennt, sich aber letztlich anders entschieden hat - gegen das Aufbrechen, gegen das Zerstören, das die Weltsprache der Plastik derzeit bestimmt.

Hortensias Figuren schaffen der Schönheit eine Oase, nicht als Fluchtpunkt, sondern als Ausdruck von Klarheit und Erkenntnis. Allesamt sind dies Elemente, die fragwürdig geworden sind in einer Zeit, die zu zerbrechen droht, deren Zerstörung so nahe scheint. Es sind Elemente, die anzugreifen billig geworden ist, weil es sich um Elemente handelt, die verletzlich sind wie wir selbst.

Die Figuren Hortensias scheinen um diese Verletzlichkeit zu wissen, aber sie widersetzen sich. Sie gehen einen entscheidenden Schritt hinaus über das, was ist. Sie stehen exakt an jenem Punkt, wo die gestaltende Handlung zur inneren und äußeren Wahrnehmung in ein Spannungsfeld tritt.

Es ist eine Tatsache, dass wir Kunst als ein elementares Bedürfnis unserer Existenz benötigen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir Bilder brauchen. Wir denken in Bildern. Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse prägen sich uns in Bildern ein - und wenn sie es nicht in Bildern tun, sind sie verloren, vergessen. Wir brauchen Bilder, um uns über uns selbst und die Menschen in unserer Umwelt und über diese Umwelt „ein Bild zu machen". Um Zusammenhänge zu verstehen. Um uns zu verstehen.

Wir brauchen Bilder. Das ist die einfache Wahrheit. Kunst ist Orientierung. Sie war es schon in ihren Anfängen, in den urzeitlichen Höhlenmalereien und Kleinplastiken, deren Sinn darin lag, sich durch eine Art Zauber symbolisch anzueignen, was sie darstellten. Daran hat sich seither nichts geändert. Alles Verstehen, jedes Ereignis, jede Erfahrung ist in Bildern in uns - oder es ist gar nicht in uns.

Und wer meinen sollte, dass es der Bilder genug gäbe, dass es der Kunst gar nicht mehr bedürfe, weil wir von Bildern, von Sinneseindrücken, von Werbung und Symbolen tagtäglich geradezu überflutet werden, irrt: Im Gewirr solcher Informationen und Wertvorstellungen drohen wir vor die Hunde zu gehen. Mehr denn je haben wir die Kunst nötig, weil sie eine Art Welteroberung ist, weil nur sie vermag, uns eine Form der Aneignung zu bieten, weil sie eben kein Abbilden der Wirklichkeit ist, sondern uns einen Zugang und die Überwindung von Distanzen durch die Phantasie eröffnet.

Wir brauchen die Kunst, weil sie unsere Gefühle als Leiter benützt, um dann frei zu schwingen, nicht im luftleeren, sondern im lustvollen Raum. Wir brauchen die Kunst, weil sie Klarheit bringt. Wir brauchen sie, weil sie uns fühlen lässt, wozu wir fähig wären.

Wir brauchen die Kunst, um den geheimen Sinn zu finden, den unser Leben bedeutet.

Otto Hans Ressler

Wien, im Februar 2002

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